Digital Detox – unser Howto der „digitalen Entgiftung“

Von Rene Reinisch

In der Ära digitaler Reizüberflutung und Zeitfresser gilt das Schlagwort „Digital Detox“ als die Lösung der Problematik. Doch wohin führt die digitale Entgiftung bzw. die Entgiftung vom Digitalen? Schon die Begriffsungenauigkeit zeigt möglicherweise den Fehler im Detail: Muss digitales Gift herausgefiltert werden oder mit Hilfe des Digitalen eine Entgiftung stattfinden? Ist der wahre Weg am Ende gar beides?
Die Digitalisierung hat uns einige Annehmlichkeiten beschert, auf die wohl kaum jemand verzichten möchte – viele können dies schon aus Berufsgründen nicht mehr.

 

Die Dosis macht das Gift – und manches wirkt stärker

Mit dieser wichtigen Binsenweisheit versuchen wir uns dem Kern des Digital Detox zu nähern. Wenn schon früh morgens das Smartphone läutet und vibriert und noch im Halbschlaf Aufmerksamkeit fordert, wenn der neue Tag mehr mit dem Blick aufs Display als durchs Fenster beginnt, der Vormittag, die Mittagspause, der Nachmittag, Abend und Nacht bis zum Einschlafen auf die gleiche Weise ablaufen, ohne die Umgebung nennenswert wahrzunehmen, dann ist das Verhältnis zwischen künstlicher und echter Welt gestört. Ständige Bereitschaft, geradezu Angst eine Neuigkeit zu verpassen – das sog. „Fear of missing out“-Syndrom (FOMO) – und der daraus resultierende Zwang zu interagieren, verursacht psychische Belastung.

 

Niemand kann immerzu erreichbar sein, Pausen zur Regeneration sind für die Gesundheit unabdingbar. In schweren Fällen kommen daher sogar ernsthafte Therapien zum Einsatz, auch bekannt als „Digital Detox Camps“. In Umfragen wird ermittelt, wieviele Personen bereits einen Digital Detox durchgeführt haben oder einen solchen planen – der mittlere Anteil der Ja-Stimmen ist hoch, Befürwortung entsprechend gegeben. Die Vornahme einer Entgiftung impliziert aber stets das große Risiko, wieder rückfällig zu werden, da eine Suchtgefährdung zumindest latent vorhanden bleibt.
Soll nur die Werbung verschwinden oder gar die Flasche im Regal? Zugegeben ein schräger Vergleich, aber ein wenig erinnert das Detox-Dilemma an die unrühmlichen Zeiten der Prohibition und deren bekanntes Versagen. Irgendwie scheint man den Menschen gewisse Laster nicht gänzlich austreiben zu können – Glückshormone lassen grüßen.

 

Welcher Nutzertypus bist du?

A: Das Internet und seine Werkzeuge sind gelegentliche Hilfsmittel. Ich nutze sie nur, wenn es mir
erkennbaren Vorteil bietet oder unumgänglich ist. Mein Leben findet in der Realität statt, mit fühlbarer Umwelt, echten Menschen und vitalen Ereignissen.

B: Smartphone, Tablet und Internet sind meine ständigen Begleiter und fester Bestandteil meiner
Freizeit – auf der Arbeit geht sowieso nichts ohne. Virtuelle Kontakte sind für mich selbstverständlich, Apps halten mich auf dem Laufenden. Manchmal gehe ich offline, um mich ganz bewusst anderen Dingen zu widmen.

C: Realität? Virtualität? Wo liegt der Unterschied? Mein Tag beginnt und endet mit News, Messenger-Apps, Social Media, Community, Streaming, Gaming, Tweets, Retweets, Reaction- Videos und Reaktionen darauf – 7 Tage die Woche, 365 Tage im Jahr. Ich verdiene mein Geld im Netz, ich entwickle und erschaffe das Netz, ich atme und bin das Netz. Willkommen im 21. Jahrhundert!

Typ C mag als Extrem-Fall erscheinen und doch zunehmend häufiger auftreten als der Tech-Muffel. A – die Verschmelzung des Realen mit dem Virtuellen ist zum Teil bereits vollzogen und weitere dahingehende Intensität buchstäblich vorprogrammiert. Obwohl die Schwerpunkte in Alltag und Berufstätigkeit verschieden gelagert sind, ist die digitale Welt allgegenwärtig. Die meisten Menschen, die an das Leben in einem Industriestaat gewöhnt sind, dürften sich daher im Bereich B wiederfinden, d.h fest eingebunden in die Digitalität, aber doch oft mit anderweitigen Interessen.

 

Filtern oder Auszeit gönnen?

Digitalen Unrat gab es schon zu Beginn des Internet-Zeitalters, bevor das Smartphone erfunden war, und sogar in der für die Mehrheit kaum mehr vorstellbaren Offline-Ära: überflüssige Shovelware, sinnlose Programme, dysfunktionale, unbrauchbare Tools und fast unspielbare Spiele – dennoch wurden Unmengen Zeit damit vergeudet. Viraler Schrott ist also nichts Neues, die Verbreitungsgeschwindigkeit und der Köder-Mechanismus dagegen ein aktuelles Phänomen. Der ununterbrochene Newsfeed („Push-Nachrichten“) und sonstige Alerts schaufeln im Rekordtempo einen nutzlosen bis enervierenden Müllhaufen ins überladene Bewusstsein.

 

Unsere Meinung zu üblichen Empfehlungen:

– Offline-Tage

Einen ganzen oder mehrere Tage, auch fernab von zuhause unerreichbar sein? Mittlerweile schon fast ein Abenteuer, klar ist dabei auch die Unerreichbarkeit in Notfällen.

– Geräte abschalten/verbannen

Einen elektronikfreien Wohnraum abzustecken – z.B. das Schlafzimmer – klingt durchaus vernünftig. Alternativen bei Smartphone und Tablet wären der „Flugmodus“ über Nacht sowie automatisiertes Aus- und Einschalten. Zum Nachteil: siehe oben. Wie notwendig du erreichbar sein sollst oder musst, ist aber individuell verschieden.

– Social Media ausblenden
Um gewohnte Apps zu ignorieren und Neugier zu unterdrücken, ist Disziplin gefragt. Leichter als derartige Konzentrationsübungen sind das Sortieren und Ausdünnen überflüssiger Kontakte, Gruppen oder Abonnements.

– Browser statt Apps
Für Nutzer, die „Glocken“, Alarme und Popups absolut nicht widerstehen, könnte manuelles Suchen, Seitenladen und Abrufen der Mails insbesondere am Desktop-Rechner Abhilfe schaffen. Gezieltes Filtern erwünschter Infos – die individuelle Auswahl – erscheint als effizientere Option.

– Extrageräte statt Apps
Gemeint sind echte Uhren, Wecker, Taschenlampen und dergleichen. Ein Telefon oder Tablet kann ohnehin nicht alle Geräte und Werkzeuge ersetzen, ist aber oft als praktische Lösung zur Hand. Ob
„analoges“ Klingeln am Morgen weniger nervt als das Smartphone, darf bezweifelt werden – ebenso die Wirkung beim Verschieben der Handy-Nutzung um kurze Zeiträume.

Bildquelle: https://www.arztphobie.com/magazin/smartphone-detox-entzug/

Digital Detox durch Automatisierung?

Scheinbar paradox, doch konnten wir uns nicht verkneifen, die Möglichkeiten der Automatikfunktionen und den Einsatz von Robotern zu erwähnen – keinesfalls aber widersprüchlicher als empfohlene Digital-Detox-Apps, die wiederum deine Aufmerksamkeit verlangen. Delegieren statt abzuschalten könnte ein Mittelweg sein, denn sicher schreiten Digitalisierung und Virtualisierung weiter voran. Künstliche Intelligenz, die schon jetzt beim Organisieren, Editieren und Archivieren von Daten hilft, wird dabei eine große Rolle spielen, selbstoptimierend lernen und zunehmend komplexere Aufgaben übernehmen. Im Bewältigen riesiger Informationsfluten stoßen wir längstens an unsere Grenzen, doch bei der Leistungsfähigkeit der Maschinen ist kein Ende in Sicht.

 

Unser Kommentar

In einer zunehmend digitalen Existenz haftet dem proklamierten Verzicht etwas Reaktionäres an: der Versuch eine Welt zu konservieren, die längstens vergangen ist und nicht zurückkehren wird. Daher stellt sich die Frage, ob man nicht eine zwecklose Richtung einschlägt, indem man das Digitale als Gift betrachtet – sofern der echte Ausstieg gar nicht gewollt ist. Eine Entziehungskur ist immer nur dann nötig, wenn ein kontrollierbares und damit gesundes Maß überschritten wird. Muss aber wirklich erst der Overload passieren, um anschließend sein Bewusstsein und das Gewissen von digitalen Sünden reinzuwaschen? Sicher, wer seinen Alltag nicht mehr bewältigt, wichtige reale Kontakte für virtuelle aufgibt, Familie durch Fanbase ersetzt, Bewegungs- und Schlafmangel akut auf die Spitze treibt oder gar Angststörungen entwickelt, der muss weg von seiner digitalen Droge. Für die absolute Mehrheit in einer technisierten Welt jedoch ist es offenbar der falsche Ansatz, die Digitalisierung als Krankheit behandeln zu wollen – nach der Überdosis bis zur kompletten Ausnüchterung. Das Erlangen von Kompetenz im Umgang mit sozialen Medien und vernetzten Geräten ist der nachhaltige, weil dauerhaft realisierbare Weg der digitalen Entschlackung. Gegenüber dem „Wie komme ich davon weg?“, glauben wir an das Motto „Wie nutze ich sinnvoll?“ – eine tägliche Leitfrage zur Vermeidung roter Bereiche und dem Totalschaden durch Überhitzung.

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